• 06.12.2024

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Dieser Bub hatte eine schwere Kindheit

junge

» Artikel vom

Gastautor: Senftube

Ich habe lange überlegt, ob ich einen oder mehrere Artikel schreiben soll, weil es ja nur indirekt um eine Scheidung geht, nämlich der meiner Mutter. Und ob so ein Artikel überhaupt passt.

Es wird hier immer von den AEs und ihren Kindern gesprochen, aber reden wir doch mal von einem Buben einer solchen AE?

Kennt ihr das? Dass andere immer irgendeine Idee davon haben, wie schwer man es gehabt haben müsste? Tatsache ist aber, dass diese Personen das aus ihrer Wahrnehmung heraus mit ihrer eigenen Kindheit vergleichen. Nun reden wir mal von diesem Buben, der steckte mittendrin.

Dieser Bub hat in allen Brennpunktvierteln seiner Stadt gelebt. Es gab Viertel in der Stadt, in denen man sich als Fremder nicht hinein trauen sollte, hieß es. Der Bub bemerkte das nicht. Viertel, die sich fest in der Kontrolle von Zigeunern befanden, andere waren in der Hand von Rockern, von Italienern, von Griechen oder von Türken. Der Bub merkte keinen Unterschied. Und die Jugos, die nicht weniger existentiell waren.
Wenn man nicht Teil dieser Viertel war, waren diese Gruppen gar nicht sichtbar. Dieser Bub war Teil dieser Viertel und hat das auch als normal empfunden. Das Leben ist eben so.

Dieser Bub wurde von einem Heim ins nächste geschoben, klassische Jungen-Heime mit Nonnen und landete schlussendlich in einem Heim mit Erzieherinnen und Pädagogen, deren Praktikantinnen nicht viel älter waren, als der Bub. In den Ferien nach der ersten Klasse lernte dieser Bub das erste Mal, dass es keine Freunde gibt, sondern Interessen. Da gab es diesen neuen Türken in der Gruppe des Buben - schon ein Alpha, ziemlich schnelle Reflexe, der die erste Klasse überspringen durfte. Womit er sofort in die zweite Klasse und dieser Bub in die zweite Wahl seines bis dahin besten Freundes kam.

Dieser Bub lernte, dass er sein Leben nicht kontrollieren kann. Dass es immer einen Mächtigeren oder einen anderen gibt, der sein Leben verändert, ohne dass der Bub etwas dagegen unternehmen kann.
Das hat sich nie mehr geändert, auch nicht im Berufsleben.

Ist es nun eine schlimme Kindheit, wenn dieser Bub nachts nicht schlafen kann, weil ein anderes Kind so laut mit den Zähnen knirscht, dass die Milchzähne bis zum Zahnfleisch abgerieben werden? Dessen Vater schwer alkoholkrank war? Ist es eine schlimme Kindheit, wenn ein anderes Kind mit elf Jahren noch ins Bett macht, den Rücken voller Narben vom Gürtel seines Vaters? Ist es eine schlimme Kindheit, wenn ein anderes Kind Brandnarben von den Zigarettenkippen seines Vaters hat? Ist es eine schlimme Kindheit, wenn der Bruder dieses Buben vor Schmerzen in sein Essen kotzt, den Rücken grün und blau geschlagen mit der frisch abgeschnittenen Gerte, wenn der Vater mit ihm wieder mal in den Wald gegangen war? Oder ist es schlimmer, wenn die Oma dann Wert darauf legt, dass der vollgekotzte Teller trotzdem aufgegessen wird?
Oder wollen wir mal über die Mädchen reden, die der Vater, der Onkel, usw. ganz doll lieb gehabt hat? Mädchen, die vom Bruder vergewaltigt werden und dieses Kind großziehen?

Die ersten Mädchen haben sich dann etwa im Alter von zwölf Jahren die Arme aufgeschlitzt, um auf sich aufmerksam zu machen; die ersten Toten bei den Jungs gab es dann in der Pubertät. Jugendliche, die sich durch Drogen umgebracht, sich aufgehängt oder vors Auto geworfen haben.

Tatsache ist, dass dies die Welt dieses Buben war. Dass dieses Leben schlimmer ist, als ein anderes, darauf kam niemand in diesen Vierteln. Denn es gab kein anderes Leben, für niemanden in dieser Welt des Buben.

The Real Freeman und Nordmann können das eventuell einschätzen, wenn ich das richtig aus ihrer Berufserfahrung schließen darf. Es gab kein schlimmeres Leben. Es gibt nur den Moment, der entsteht - indem man sich gerade befindet und mit dem man zurechtkommt. Es gibt noch nicht einmal ein zurechtkommen müssen, das wäre schon wieder eine Simulation einer Wahlfreiheit. Den Moment hat sich der Bub nicht ausgesucht - weil jemand anderes die Rahmenbedingungen entschieden hat. Der Bub kann noch nicht einmal sagen, dass er sich in diesem Moment für oder gegen etwas entscheidet. Es läuft auf Konsequenzen hinaus, nicht auf Entscheidungen. Der Bub, das Gehirn, muss mit diesem Moment umgehen, Wissen zusammenfügen - und zwar schnell - und muss agieren oder reagieren, sich an den Moment anpassen. Der nächste Moment muss schon wieder neu bewertet werden. So lebt der Bub, so arbeite ich, schnörkellos.
Ich denke nicht, dass das etwas Besonderes ist. Ich denke, alle tun das. Es gibt nur diesen Firnis der Zivilisation, den viele erst überwinden müssen - sowie ein Ex-Ehemann glaubt, dass das alles gar nicht gegen ihn gerichtet sein kann, was er gerade erlebt. Der irgendwie an etwas geglaubt hat, an Fairness, an Gerechtigkeit - und es lange - trotz permanenter neuer Erkenntnisse nicht sofort wahrhaben will oder kann. Das Leben ist nicht fair, es ist nicht gerecht. Das Leben ist.

Das Messer dieses Buben ist nur größer - so, wie in dem Film ‚Crocodile Dundee‘ - ohne dass dieser Bub es bemerkt.

Ich habe mit etwa 13 Jahren gelernt, Windeln zu wechseln. Bei einem Mädchen, das sich an meine Beine geklammert und mich als Ersatzvater ausgesucht hat. Und nicht mehr los lassen wollte. Das Geborgenheit und Zuflucht suchte.
Ein Mädchen, viereinhalb Jahre alt, das etwas in seiner Entwicklung zurück geblieben war, weil dessen Vater es daheim gegen Wände geworfen hat.

Und dieses Mädchen habe ich jeden Tag vom Heim in den Kindergarten gebracht - auf meinem Weg zum Gymnasium. Zwei Jahre lang. Jeden Tag von einer Welt in eine - andere Welt. Eine Welt, deren Kinder aus den Vororten der Stadt in dieses Gymnasium gekommen sind. Weil dieses Gymnasium gerade modern war und die Eltern dieser Kinder alles unternommen haben, um ihre Kinder in dieses Gymnasium zu bringen. Kinder, die aus Einfamilienhäusern kommen, aus Villen aus der Jugendstilzeit und nicht aus Vierteln, die dieser Bub kannte. Vom Ponyhof. Mädchen, die regelmäßig mit ihren Pferden reiten waren. Und diese Kinder hatten Probleme, die der Bub gar nicht als solche wahrgenommen habe. Bei denen der Bub nicht erkennen konnte, was nun ihr Problem gewesen ist. Ihr Maßstab war einfach ein anderer. Aus ihrer Sicht waren ihre Probleme groß. Das Messer des Buben war einfach größer. Die Reaktionen auf diese Probleme waren natürlich auch unangemessen. Aber auch hier galt es, sich an diese Situation anzupassen. Was nicht gelang. Jeder hat gemerkt, dass der Bub keiner von ihnen war. Auch der Bub. Und nach der Schule ging es wieder zurück ins Heim. In die Welt des Buben. Immer.

War meine Kindheit also schlimm? Hatte dieser Bub eine schlimme Kindheit?

Ich habe mir die Kinder in meiner Klasse im Gymnasium angesehen und jeden Tag überlegt, welches dieser Kinder nicht im Heim lebt. Es aber sollte.

Das Leben ist, wie es ist.

Glück gehabt.

P.S.:
Natürlich ist das nur eine Rahmenhandlung, eine Ausgangssituation evtl. für weitere Artikel.
Ich möchte hier auch keine Botschaften vermitteln, denn jeder hat sein eigenes Leben. Ich hoffe, das kommt auch an.
Ich könnte auch vom Buben und von den Mädchen in diesem Umfeld berichten, falls Interesse besteht.
Ich habe übrigens auch nichts aufzuarbeiten.

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